Das ist neu! Bislang schien es zumeist eine klare Sache zu sein: Wer hinten auffährt trägt (in großen Teilen) die Schuld. Schließlich hätte der Auffahrende mehr Abstand halten und aufmerksamer sein können. Das OLG Frankfurt/Main sieht es anders und hat nun ein Urteil mit Signalwirkung gefällt.
Das war passiert: Nach einem Auffahrunfall auf der A45, der sich im Sommer 2021 inmitten einer Baustelle ereignete, urteilte das OLG auf eine Haftungsverteilung von 50 zu 50 zwischen den beteiligten Fahrern (AZ: 9 U 5/24).
Der Fall: Ein Ford Ranger fuhr auf der linken Spur, als sich die Fahrbahn wegen einer Baustelle verengte. Der Fahrer begann, auf die mittlere Spur zu wechseln, brach diesen Vorgang jedoch ab, als sich dort der Verkehr staute, und kehrte – wie auch das vorausfahrende Fahrzeug – zurück auf die linke Spur.
Dort bremste das vordere Auto abrupt bis zum Stillstand ab. Der Ford-Fahrer konnte noch eine Sekunde bremsen, bevor auch er zum Stehen kam. Das nachfolgende Fahrzeug fuhr auf, der Schaden betrug rund 60.000 Euro.
Das Landgericht sah zunächst die Hauptschuld beim Auffahrenden und verteilte die Haftung zu 80 Prozent auf ihn. Doch das OLG Frankfurt korrigierte dieses Urteil.
Die Richter begründeten die hälftige Haftung mit dem atypischen Unfallhergang: Normalerweise spricht der sogenannte Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden, da unterstellt wird, er habe entweder zu wenig Abstand gehalten, sei zu schnell oder unaufmerksam gefahren.
Im vorliegenden Fall wurde dieser Anscheinsbeweis jedoch entkräftet. Der Fahrer des Ford hatte den begonnenen Spurwechsel abrupt abgebrochen, war wieder auf die linke Spur zurückgekehrt, um dann dort ohne erkennbare Ankündigung bis zum Stillstand zu Bremsen – alles im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Unfall.
Das Gericht sah eine unklare Verkehrslage und betonte, dass auch der vorausfahrende Fahrer den rückwärtigen Verkehr nicht ausreichend beachtet habe. Gleichzeitig wurde der auffahrende Fahrer nicht völlig aus der Verantwortung entlassen, da bei dichter Verkehrslage jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern gerechnet werden müsse.
Die Richter hoben hervor, dass in komplexen Verkehrssituationen wie Baustellen oder Spurwechseln eine differenzierte Betrachtung des Einzelfalls erforderlich sei. Der typische Automatismus der Alleinhaftung des Auffahrenden greife hier nicht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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